Vergebung ist Erinnerung ohne Leid.
Wie du vielleicht, durch meine Newsletter weißt, arbeite ich derzeit sehr viel mit Flüchtlingen. In diesem Zusammenhang geht es hauptsächlich darum, zuzuhören. Die Geschichten, die erzählt werden, sind traurig bis grausam.
Was mich in meiner Arbeit besonders beschäftigt, ist die Frage, wie diese Menschen ihre Erfahrungen hinter sich lassen können. Wie kann ein Neustart nach solch schlimmen Erfahrungen gelingen? Beim Nachgehen meiner Gedanken landete ich bei Viktor Fankl.
Der Psychiater Viktor Fankl überlebte die Unterbringung in einem Konzentrationslager während der Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland. Aus seinen Erfahrungen und Erlebnissen heraus entwickelte er die Logotherapie. Der zentrale Ansatz seiner Therapie ist die Suche nach dem Sinnhaften. Auch die Vergebung spielt für Fankl sowohl persönlich, als auch in der Therapie eine große Rolle.
Da ich glaube, dass Vergebung ein wichtiger Schritt zur persönlichen Freiheit ist, habe ich diesen Artikel geschrieben.
Was Vergebung erschwert
Wir alle haben ein grundlegendes Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Ein Unrecht, ob wir es selber oder jemand anderes erlitten hat, schreit nach Bereinigung. So möchten wir unser Gerechtigkeitsgefühl ins Lot bringen. Intuitiv haben wir gleichzeitig, dass Gefühl, dass Vergebung uns entlasten kann. Nach den Resultaten der Vergebungsforschung stimmt dieses Gefühl. Dazu gleich mehr.
In unserer Gesellschaft wird die Leistung allem Anschein nach über alles Andere gestellt. In der sogenannten Ellbogenmentalität wirkt Vergebung verweichlicht. Es entsteht der Eindruck, dass Menschen die vergeben, Verlierer sind. Wer nicht zurückschlägt, oder gar die andere Wange hinhält, wird doch nur ausgenutzt. Oder nicht?
Wenn wir schon sehr lange mit einer Tat oder ihren Folgen hadern, kann das dazu führen, dass Hadern ein Teil unserer Persönlichkeit wird. Zum Teil fällt es uns in solchen Momenten schwer, zu vergeben. Wenn wir verzeihen würden, würde dieser Teil unserer Persönlichkeit seinen Sinn verlieren. Da er inzwischen ein wesentlicher Bestandteil unserer Identität geworden ist, ist das nicht einfach.
Es wird unter Umständen etwas dauern, bis dieser Persönlichkeitsanteil durch einen anderen ersetzt wird. Die Erfahrung aus der Therapie zeigt, dass an seine Stelle oftmals „innere Ruhe“ und „Freiheit“ treten.
Vergebung bremst die Spirale aus
Viktor Frankl erkannte im Konzentrationslager, dass ihm der Hass auf die Wärter seine Lebenskraft und -energie raubte. Beides brauchte er jedoch zum Überleben. Vor diesem Hintergrund prägte er die Aussage: „Ich weigere mich, meine Widersacher zu hassen!“
Frankl war, darüber hinaus klar, dass Hass und Rache eine Spirale erzeugen. Eine schier endlose Kette von Vergeltung und Racheakten würde folgen, wenn die Menschen ihren Rachegedanken umsetzen.
So setze er auf Menschlichkeit als Maßstab für ein sinnvolles Leben und Handeln. Diese Menschlichkeit bezieht verzeihen und vergeben mit ein. Anderen, genauso wie uns selbst.
Ich möchte diesen Absatz noch mit einem Zitat Frankls beenden: „Niemand hat das Recht, Unrecht zu tun, auch der nicht, der Unrecht erlitten hat.“
Liebe ist nicht der Gegensatz zu Hass
Aus meiner Sicht sind Liebe und Hass wie die beiden Seiten eines Handtuches. Jemanden, den ich nicht hasse brauche ich nicht unbedingt zu lieben. Genauso wenig bedeutet Vergebung, die Tat oder ihre Folgen zu rechtfertigen.
Wenn du jemanden vergibst, bedeutet es in keinen Fall, dass du ihn jemals wiedersehen musst. Selbst wenn du ihn wiedersiehst, kannst du aus dem Kontakt gehen oder ein neutrales Kontaktverhalten einnehmen.
Das geschehene Leid wird nicht auf einmal weg sein, wenn wir vergeben. Es wird auch nicht kleingeredet. Aussagen wie „Wenn du das vergeben kannst, kann es doch nicht so schlimm gewesen sein.“, halten uns eher in unserem Leid und in unserer Opferrolle. Daher sollten wir sie getrost überhören.
Mit der Vergebung setzt ein neuer Weg der Bewältigung ein. Ein Weg, der nicht durch Verdrängung oder Rachegedanken, sondern durch unser ureigenes Selbst geprägt wird. Doch noch kurz zur Verdrängung.
Wenn Vergebung verdrängen will
Manchmal sind wir recht schnell im Modus des Verzeihens und Vergebens. Unrecht wird beiseitegeschoben und wir haben zu früh zu viel Verständnis. Das sind oft Momentente in denen Angst eine Rolle spielt.
Vielleicht ist es die Angst verlassen zu werden oder selber Kritik einstecken zu müssen. Je geringer das eigene Selbstwertgefühl ist umso größer ist die Gefahr, in eine solche Falle zu tappen.
Auch hier finde ich die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Handels wichtig. Wenn es sinnvoll für dich ist, solltest du vergeben. Wenn du dich durch das Vergeben selber herabsetzt, gibt es vielleicht eine andere Option.
Gerade hier liegt die Schwierigkeit der Vergebung. Vergibst du zu schnell, wirst du nicht ernst genommen. Vergibst du nicht, bleibst du in der Opferrolle gefangen.
Gerne würde ich dir ein „wenn – dann“ Rezept anbieten. Da kann ich leider nicht. Für mich persönlich ist die „Warum-Frage“ an dieser Stelle hilfreich. Die Frage nach dem Hintergrund einer Handlung. Wenn die Antwort darauf eine wie auch immer geartete Angst ist, solltest du deine Möglichkeiten nochmal überdenken. Ansonsten ist es vielleicht jetzt Zeit für eine Vergebung.
Was Vergebung bringt
Zu aller erst hilft Vergebung dir. Es geht um dein Wohlbefinden. Wenn du in Gedanken von Rache oder ausgleichender Gerechtigkeit bleibst, bist du weiter mit der Tat verbunden. Über die Tat bleibst du auch mit dem Täter verbandelt. Du bleibst in der Opferrolle. Diese Position ist so stark, dass sie sich auf dein jetziges und zukünftiges Denken sowie Handeln auswirkt.
Verschiedene Studien zeigen auf, dass Vergebung die Lebensqualität verbessert. Wer vergibt, ist zufriedener und weniger depressiv. Da Vergebung nur aus dir selbst entstehen kann, wird sie dein Selbstwertgefühl stärken.
Das „Wie“ der Vergebung
Wenn es um tiefgreifende Verletzungen, angefangen vom starken „emotionalen Missbrauch“ über „körperliche Gefährdung“ bis hin zum „sexuellen Missbrauch“ geht, bitte ich dich dir professionelle Hilfe zu holen. Hierzu gibt es verschiedene Hilfsorganisationen, die Sprechstunden anbieten und niedergelassene Therapeuten. Ansonsten kann es sehr hilfreich sein, wenn du einen guten Freund bittest, dich zu begleiten.
Die beiden folgenden Übungen kenne ich aus der Gestalttherapie. Bedenke bei beiden Übungen, dass Wut, Rachephantasien und sogar Hass sein dürfen. Sie sind normale menschliche Emotionen. Leider kann die Gesellschaft nur schlecht mit diesen Gefühlen umgehen. Daher werden sie meist verbannt. Sie gehören jedoch dazu.
Das imaginäre Gespräch
Nimm dir zwei Stühle. Der eine ist für dich, der andere für den Menschen, den du verzeihen möchtest.
Zuerst setzt du dich auf deinen Stuhl. Du sagst deinem imaginären Gegenüber, was seine Tat anrichtete. Welche Folgen sie hat und wie du dich bei all dem fühlst.
Dann wechselt du auf den anderen Stuhl in die Rolle deines imaginären Gegenübers. Nimm dir kurz Zeit, das Gesagte an dieser Stelle noch einmal auf dich wirken zu lassen. Antworte nun aus dieser Sicht deinem eigenen ich (Stuhl).
Nachdem auf diesem Stuhl alles gesagt wurde, wechselst du wieder auf deinen persönlichen Stuhl. Auch diesmal nimm dir den Raum, das Gesagte wirken zu lassen. Nun bist du an der Reihe zu sprechen und auf das Gesagte zu reagieren.
Du wechselst so lange zwischen den beiden Stühlen hin und her, bis alles gesagt wurde. Meist merkst du es daran, dass sich die Dinge wiederholen. Dann stehe auf und schaue dir die beiden Stühle von außen noch einmal an.
Jetzt kannst du entscheiden, ob du dem anderen vergeben möchtest oder ob du die Vergebung noch aufschieben willst.
Ein kleines Wort zur Warnung. Bei mir hat ein Stuhl den Prozess schon mal nicht überlebt. Entweder nimmst du alte Stühle oder es ist für dich OK, wenn einer kaputtgeht.
Schreibe einen Brief
Schreibe auf, was passiert ist und wie du dich gefühlt hast. Hier geht es nicht um den guten Ausdruck. Es geht darum, dass du dir alles von der Seele schreibst. Es kann sein, dass du den Brief ein oder zweimal wegpacken musst, um ihn dann weiterzuschreiben. Ich würde dir in jedem Fall empfehlen, ihn an einem Tag zu beenden, damit du auch abschließen kannst.
Wie auch bei der ersten Übung entscheidest du, ob du jetzt oder später vergeben möchtest.
Ich persönlich finde es Symbolisch sehr gut, den Brief zu verbrennen und seine Asche dem Wind zu überlassen.
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… trotzdem ja zum Leben sagen – Viktor E. Frankl
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